Deutschland-Revue – Chronik eines torkelnden Planeten - Werkstatt - kultur 114 - März 2015

Deutschland-Revue - Chronik eines torkelnden Planeten
Foto: Theater Bonn
Deutschland-Revue - Chronik eines torkelnden Planeten
Foto: Theater Bonn

Unterirdische Deutschland-Revue


Mit einem Koffer voller Bücher ist Patrick Wengenroth nach Bonn gereist, um mit fünf Schauspielern und einem Musiker eine seiner in Berlin als Kult gehandelten Trash-Revuen zu inszenieren. Poppig zeitgeistig, alles hübsch ohne Moralinsäure verwurstet in der sinnfreien Intertext-Maschine, die Politphrasen mit Literaturfetzen mixt, ein bisschen Pornowürze dazugibt und das Ganze als neues Performanceformat verkauft. Wengenroth ist freilich klug genug, um genau das ironisch zu karikieren.
Die Spuren der behaupteten Lektüre-Anstrengungen bleiben bei der Uraufführung seiner Chronik eines torkelnden Planeten in der Werkstatt recht übersichtlich. Die „Endzeit“ im Stücktitel ist gestrichen und durch „Deutschland“ ersetzt, den Zustand des Planeten kann man sich bei der dreistündigen Torkelei hinzudenken. Der Zeitrahmen umfasst ungefähr das letzte Jahrhundert. Das alte Volkslied „Kein schöner Land in dieser Zeit“ geistert als eine Art Leitmotiv durch den streckenweise ganz kurzweiligen Abend, den der Autor und Regisseur Wengenroth gemeinsam mit fünf Mitgliedern des Schauspiel-Ensembles zusammen­gebas­telt hat.
Leicht verballhornt prangt über der Bühne von Mascha Mazur (auch verantwortlich für die Kostüme) der Spruch „Dem deutschem Volker“ und erinnert an die Widmung, die seit knapp hundert Jahren das Berliner Reichstagsgebäude ziert. Ein riesiger Kleiderhaufen bedeckt den Boden, was für allerhand lustige bergsteigerische Rutschpartien sorgt. Vor der naheliegenden Auschwitz-Assoziation warnt Lydia Stäubli bereits charmant in ihrem Prolog: Das Team wird sich furchtlos in Tabu-Zonen stürzen, parodistisch dem bitteren Ernst der Geschichte trotzen und schamlos albern dem Nibelungen-Spielmann Volker die germanischen Mythen um die Ohren hauen. Deutsches Liedgut von Udo Jürgens bis André Heller hat Musiker Johannes Mittl dafür mitgebracht, der die aberwitzige Show am Piano begleitet.
Unbehost, dafür jedoch mit Pickelhaube und viel Ordensmetall am blauen Uniformrock, spielt Samuel Braun Horváths Ein Kind unserer Zeit, an Geist und Körper versehrt dem ­Ersten Weltkrieg entronnen und als Schneemann verendend. Er ist die durchgängige Schlüsselfigur und hat echt berührende Momente im Getümmel der Vergangenheits-Gespenster. In brauner Uniform stiefelt Ursula Grossenbacher durch die Szenerie, liefert Bier für durstige Soldatenkehlen, singt fabelhaft, hat als geistreiche Domina Hannah Arendt einen brillanten Auftritt und darf auch mal päpstlich erscheinen. Als trauriger Clown ist Glenn Goltz unschlagbar, räumt irgendwann schaumige Süßwaren ab, die man nicht mehr „Negerküsse“ nennt, darf aber auch mal hübsch locker Schlafzimmer-Geheimnisse ausplaudern. Angela und Ulrike hocken da in trauter Eintracht beisammen.
Derweil fleht Ali (Andrej Kaminsiki als Geschöpf von Günter Wallraff) mit schwarzer Perücke „ganz unten“ um eine katholische Taufe. Oder holt unter Sturmgebraus und Nebelschwaden ein lustiges rotes Teufelchen aus dem Backofen. Nebenbei kocht er eine Suppe, die das Publikum in der Pause verkosten kann. Lydia Stäubli outet sich irgendwann als Schweizerin, hantiert als Lazarett-Engel mit amputierten Gliedmaßen und ist auch sonst ganz reizend.
Alle liefern brav ihre ‚Nummern‘ ab im bewusst geschmacklosen, pseudoprovokativen Rückblick auf eine unselige Epoche. Tapfer angelehnt an die literarische Technik von Karl Kraus‘ Letzte Tage der Menschheit auf der unterirdischen Lumpenspur des 20. Jahrhunderts. Spielerisch beweglich und gelegentlich sogar bewegend. Auf welchem Niveau man über die lächerliche Torkelei lacht, muss man selbst entscheiden. Freundlicher Beifall bei der nicht ganz ausverkauften Premiere, die ein paar erboste Zuschauer schon in der Pause fluchtartig verließen. E.E.-K.
Spieldauer ca. 3 Stunden,
inkl. einer Pause

Dienstag, 25.08.2015

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