"Freie Sicht" und "Griff, der Unsichtbare" - Theater Marabu - kultur 119 - Oktober 2015

Raffinierte Blickwechsel


Eigentlich haben sie alles richtig gemacht, ihre Kinder einwandfrei aufgezogen und alle Ratschläge diverser pädagogischer Medien tapfer befolgt. Aber irgendwas scheint nicht zu stimmen mit den Jugendlichen. Wie etwa mit dem Mädchen, das auf dem Parkplatz neben dem Einkaufszentrum ein grünes Paket in den Abfallkorb geworfen hat. Sind die Kids lauter kleine Bombenleger, denen nur noch mit fremder Hilfe beizukommen ist?
In seinem Stück Freie Sicht dreht der vielfach ausgezeichnete Autor Marius von Mayenburg (Hausdramaturg an der Berliner Schaubühne) die Perspektive aus seinem Drama Feuergesicht einfach um. Die bürgerlichen Eltern fürchten sich vor ihren Sprösslingen, die möglicherweise mit Terrorabsichten Supermärkte heimsuchen. Als nervöser Schwarm flattern die Erwachsenen herum, alarmieren Psychoklempner und Scharfschützen, analysieren Pubertätskonflikte, beobachten unscharfe Tatort-Videos und streicheln dabei auf dem Sofa die Hauskatze. Absurde Jagdszenen mischen sich in eine witzige Apfelbaum-Idylle. Es sind die Gewaltfantasien der besorgten Eltern, die die Kinder als kleine Monster erscheinen lassen.
Die elf Spieler des Jungen Ensembles Marabu unter der künstlerischen Leitung von Tina Jücker und Claus Overkamp entwickeln aus der Chorsituation beeindruckend individuelle Figuren. Der groteske Gespensterreigen zwischen eventuell vergiftetem Dosenobst und Feueralarm erreicht seinen spielerischen Höhepunkt, wenn das Ensemble vierarmig agiert und die Hände der Hintergrundspieler den Vordergrund Lügen strafen. Das ist fabelhaft genau choreografiert und so komisch wie der ganze Krimi aus der Sicht verunsicherter Perfektions-Eltern, die ihren Nachwuchs vor lauter Fürsorge umbringen. Ein bürgerlich saturiertes Ego-Geschwader mit besten Absichten und gruseliger Verblendung. Rückblende: Das Mädchen, das mit seiner kaputten, einäugigen Puppe meis­tens einsam als Schatten hinter der Bühne hockt, wollte bloß einen verletzten Vogel retten. Doch die Katze war schneller.
Die junge Truppe (zwischen 17 und 25 Jahren alt) macht daraus nicht nur ein virtuoses Stimmkonzert und ein Bühnen-Ereignis mit einfallsreich verwendeten Theatermitteln. Sie beleuchtet auch unverschämt genau den gesellschaftlichen Sprengstoff, der sich gerade nicht in verborgenen Winkeln zusammenbraut, sondern gut sichtbar an der Oberfläche.
Empfohlen für Zuschauer ab 14 Jahren.

Spieldauer ca. 1 Stunde, keine Pause



Griff ist dagegen eigentlich ganz normal. Sieht im Matratzengebirge von Ausstatterin Laura Rasmussen zwar etwas verschlafen aus, träumt aber von großen Aufgaben. Dass nicht jeder in seiner bürgerlich aufgeräumten Nachbarschaft von einem zweifelhaften Superman (Vorbild der witzigen Inszenierung von Christina Schelhas ist ein allenfalls mittelmäßiger australischer Film) vor verbrecherischem Unwesen gerettet werden möchte, ist ganz okay. Dass der linkische Junge seinem großen Bruder die Freundin Melody ausspannt, geht auch in Ordnung. Das Mädel hat nämlich wie Griff nicht nur einen stinklangweiligen Job, sondern gerade einen unsichtbar machenden Tarnanzug erfunden. Filmreif ist schon Griffs per Windmaschine, Live-Video und schräger Sound-Kulisse erzeugter Auftritt als Kinoheld. Noch schöner ist das Spiel mit der Unscheinbarkeit, das die drei Figuren mit ihren Illusionen zu irren Volten zwischen Peter Pan, Siegfried, James Bond und Matrix treibt. Ohne romantische Spinner wie Melody und Griff (schon wegen seines Namens hat er stets alles im Griff), die Sturm laufen gegen das weich gepolsterte Universum des Sichtbaren, verlöre die Welt ihre Zuversicht. Fand auch das begeisterte Premieren-Publikum. Die Produktion im Rahmen der Marabu-Reihe „Nachwuchsförderung Regie im Kinder-und Jugendtheater“ ist wegen ihrer Kissenschlacht-Munterkeit schon für aufgeweckte Zuschauer ab 11 Jahren vergnüglich.

Christina Schelhas, Regieassistentin am Schauspiel Bonn, hat ihre nächste Premiere am 21. Oktober in der Werkstatt. In ihrem Stück „Blut ist dicker als Wasser“ geht es um Geschwister und das, was in Familien mit ihnen passiert. Voraussichtlich kein Kinderstück. E.E.-K.

Spieldauer ca. 70 Minuten, keine Pause

Donnerstag, 15.10.2015

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