Lucia di Lammermoor - Oper Bonn - kultur 131 - Dezember 2016

Lucia di Lammermoor
Foto: Thilo Beu
Lucia di Lammermoor
Foto: Thilo Beu

Großartiges Psycho-Schauer-Drama


Merkwürdig verstört erscheint die junge Frau von Anfang an, die da zum Spielball eines Familienzwistes wird. Die Wände des Schlosses zerbröckeln, überall tun sich Risse auf, durch die morschen Fenster dringen ständig Fremde herein wie gespenstische Zuschauer. Später werden überall Bilder der verblichenen teuren Ahnen hängen, denen es nachzueifern gilt. Es gibt im Bühnenbild von Charles Edwards auch eine kleine Bühne, auf der am Ende der Wahnsinn seine Opfer fordert. Der amerikanische Regisseur David Alden hat das düstere schottische Drama in eine ‚Irrenanstalt‘ verlegt, wo die Kranken zur Erbauung des bürgerlichen Publikums Schauerstücke vorführen. Eine zu Anfang des 19. Jahrhunderts durchaus bezeugte Praxis. Man denke nur an „die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ in dem bekannten Theaterstück von Peter Weiss.
Die Kostüme von Brigitte Reiffenstuel evozieren das in jeder Hinsicht zugeknöpfte viktorianische Zeitalter. Also nicht die Epoche, in der Walter Scotts historischer Roman angesiedelt ist, der die Vorlage für Donizettis 1835 uraufgeführte Oper Lucia di Lammermoor lieferte. Für den Ablauf der Handlung spielt diese Verortung indes keine entscheidende Rolle. Aldens Inszenierung, die 2008 mit großem Erfolg an der English National Opera herauskam und durch mehrere internationale Opernhäuser tourte, erzählt stringent die Geschichte eines Mädchens, das am Konflikt zwischen den Machtinteressen ihrer Familie und ihrer romantischen Liebe zerbricht.
Lucia Ashton liebt heimlich Edgardo aus dem Geschlecht der Ravenswoods, die von den feindlichen Ashtons vertrieben wurden. Lucias Bruder Enrico will die Verbindung mit allen Mitteln verhindern. Das Mädchen soll zwecks Sanierung der Finanzen und Steigerung des politischen Einflusses den reichen Arturo heiraten. Die vielfach ausgezeichnete ­Sopranistin Julia Novikova, die in Bonn ihre internationale Karriere startete, gibt überzeugend ihr Rollendebüt als Lucia. Sie meis­tert alle ­Spitzentöne und Koloraturen der Partie scheinbar mühelos. Ihr geschmeidiger, lyrischer Sopran passt vorzüglich zu der Anlage der Figur in dieser Interpretation des Werkes, das zum Inbegriff der Belcanto-Oper wurde. Und sie spielt wunderbar das zerbrechliche Mädchen, das wie eine willenlose Puppe herumgeschubst wird und bei der erzwungenen Hochzeit unter dem rabiat übergestülpten weißen Schleier nur noch ­mechanisch das Heiratsdokument unterzeichnet.
Bruder Enrico hat sie vorher brutal ans Kinder- oder Hospitalbett gefesselt und ihr inzestuös unter den Rock gegriffen, nachdem er melancholisch seine alten Spielzeuge hervorkramte. Der Bariton Giorgos Kanaris verkörpert mit fabelhaft wandlungsfähiger Stimme einen traumatisierten Mann, der zwischen infantilem Heldentum und erns­tem Patriarchat schwankt. Der Tenor Felipe Rojas Velozo, ausgestattet mit Schottenrock, abgewetzter Lederjacke und schwarzer Zottelperücke, gibt Lucias Lover Edgardo mit robuster Strahlkraft. Er kämpft ja gegen die Vereinnahmung seiner ländlichen Heimat durch die verstädterten Briten, wobei die Gefühle für die Herzensdame eher zurück­stehen müssen. Dafür hat er in der hier gespielten Fassung mehr zu singen als bei den üblichen Repertoire-Produktionen und darf beim Finale zur Pistole greifen.
Der musikalische Leiter Jacques Lacombe arbeitet mit dem Beethoven Orchester die dramatische Substanz der Oper präzise heraus. Zu den Besonderheiten gehört, dass Lucias berühmte Wahnsinnsarie hier nicht von einer Flöte begleitet wird, sondern von der ursprünglich vorgesehenen Glasharfe, deren unwirklicher Klang ihrem verwirrten Geist das versagte Glück als Traum vorspiegelt.
Der Bass Martin Tzonev gibt souverän den korrupten Pfaffen Raymondo, der lieber dem mächtigen Enrico dient und die Bibel schwingt, als seinem Schützling Lucia beizustehen. Der Tenor Christian Georg ist ganz in Weiß der brave Bräutigam Arturo, der nichtsahnend im Hochzeitsbett als ­blutige Bühnenleiche endet. Als Befehlshaber von Edgardos trauriger Truppe bewährt sich der Tenor Johannes Mertes. Als Lucias treue Gouvernante Alisa stets präsent ist die Mezzosopranistin Susanne Blattert. Ein Sonderlob verdient das Licht von Adam Silverman, das mit übergroßen Schatten die Angst schürt, von denen alle heimgesucht werden. Großartig wie gewohnt agiert der Chor unter der Leitung von Marco Medved.
Die Aufführung, über die sich der zur Bonner Premiere eigens angereiste Regisseur Alden regelrecht hingerissen zeigte (die neue Einstudierung in Bonn übernahm sein Assistent Ian Rutherford), ist international konkurrenzfähig und wirklich grandioses Musiktheater mit Denkmomenten, die man nicht so schnell aus Gehirn und Gehör wieder loswird. Entsprechend begeistert war der Beifall für die Solisten und das ganze Team. E.E.-K.

Spieldauer ca. 3 Std. inkl. einer Pause
Die nächsten Vorstellungen:
2.12. ? 10.12. ? 28.12.16 ? 15.01. ? 20.01.17 (zum letzten Mal)

Auch bei dieser Inszenierung sind die menschlichen Opernführer ­wieder im Einsatz. Wenn Sie Fragen zu Stück, Autor oder
Inszenierung haben: Einfach im Foyer ansprechen.

Donnerstag, 19.01.2017

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