Symphonie of Sorrowful Songs / Cacti - Tanzgastspiel des Slowenischen Nationalballetts in der Oper - kultur 146 - Mai 2018

Assoziative Zeitreise

Ein Mann befreit sich langsam aus einer transparenten Plastikblase. Bekleidet nur mit einem schwarzen Slip probt sein muskulöser Körper zunehmend kraftvolle Bewegungen. Sie werden aufgenommen von einer Männergruppe im Hintergrund. Es geht um die Wahrnehmung von Zeit in dem Tanztheater Symphonie of Sorrowful Songs von Tomaž Pandur. Der slowenische Meisterregisseur schuf das Werk 2010 zusammen mit dem Choreographen Ronald Savkovic für das Berliner Staatsballett und speziell für dessen damaligen künstlerischen Leiter und Startänzer Wladimir Malakhov. Das slowenische Nationalballett hat das Stück als Hommage an den 2016 mit nur 53 Jahren verstorbenen Pandur (in Bonn inszenierte er 2004 Janáceks Oper Aus einem Totenhaus) neu einstudiert und gastierte damit Ende März im fast ausverkauften Opernhaus.
In sieben Szenen nehmen ­jeweils sieben Tänzerinnen und Tänzer die Zuschauer mit auf eine assoziative Zeitreise, die mit sensibel eingesetztem neoklassischem Bewegungsmaterial die Energie und Verletzlichkeit der menschlichen Existenz erkundet. Musikalisch getragen von der 1976 komponierten Dritten Sinfonie des Polen Henryk Górecki. Alle drei Sätze der Sinfonie der Klagelieder für Orchester und Sopran Solo sind langsam gehalten. Die Gottesmutter Maria klagt um ihren gekreuzigten Sohn wie am Ende eine namenlose Mutter um ihren beim Aufstand gefallenen Sohn. Berühmt wurde der zweite Satz nach einem kurzen Text, den eine junge Inhaftierte an die Wand des Gestapo-Gefängnisses in Zakopane schrieb.
Gegen den ruhig fließenden musikalischen Minimalismus mit seinen gesanglichen Aufbrüchen setzt das Künstlerkollektiv Numen einen ständig bewegten Bühnenbildapparat: Rohe Holzpaneele werden vertikal und horizontal verschoben, vergrößern und verkleinern in der suggestiven Lichtregie den Raum und öffnen dauernd neue Perspektiven. Es ist ein Labyrinth existenzieller Situationen ohne konkrete Handlung im Wechsel von Hautnähe und physikalischer Ferne. Eine brutale Mannschaft in schwarzen Stiefeln greift an, Frauen in weißen Tüllkleidern träumen von Hochzeitsglück, brave Sekretärinnen ziehen ihre Lack-Stöckelschuhe aus und humpeln mit einem High-Heel herum. Die Herren-Crew kreist mal auf Fahrrädern um sich selbst, was die Welt auch nicht rettet. Nach 70 tänzerisch spannungsreichen Minuten kriecht der Mann in seinen Kokon zurück, wird mit rotem Klebeband gekreuzigt und am Boden fixiert. Das Leben bleibt ein unauflösliches Rätsel zwischen emotionaler Intimität und Fremdheit in der kurzen Geschichte der Zeit, inspiriert u.a. von dem kürzlich gestorbenen Wissenschaftler Stephen Hawking und dem legendären Filmemacher Andrei Tarkowski.
Wie ein ironisches Nachspiel wirkte Cacti von dem schwedischen Starchoreographen Alexander Ekman zu einer Musikcollage von Haydn, Beethoven und Schubert, live ins Spiel gebracht von einem Streichquartett. Schwarze Podeste werden zu weißen Böden und Wänden, auf und hinter denen jeder sein eigenes Versteckspiel arrangiert. Die titelgebenden Kakteen sind Naturskulpturen und gleichzeitig stachelige Bewegungsmomente für die geistreiche Textur von Sprache, Musik und Tanz. Am Puls der Zeit stellt das 18-köpfige Ensemble mit in einer guten halben Stunde witzig alle Bedeutungs-Behauptungen in Frage. Ein Knie, angewinkelte Füße und Arme, Hebungen und Fallfiguren, ein zärtlich rabiates Duett – alles nur Funktionen in einem Kunstprozess, in dem Unterhaltung und Kommunikation zu einem sprachlich-musikalisch-bildlichen Kontinuum verschmelzen. Im besten Sinn bedeutungslos und auf den Augenblick konzentriert.
Großer Beifall für die tänzerisch exzellente Company und ihre Präsentation von zwei kontrastierenden Werken. E.E.-K.

Dienstag, 15.01.2019

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