Die Flaneure // London - Theater im Ballsaal - kultur 150 - November 2018

Die Flaneure // London
Foto: Lilian Szokody/www.szokody.de
Die Flaneure // London
Foto: Lilian Szokody/www.szokody.de

Der andere Blick

Die Figur des Flaneurs, der ziellos entschleunigt (am besten zum Beweis seines grenzenlosen Zeitbudgets mit einer Schildkröte statt Hund im Schlepptau) durch Metropolen streift, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Sehr schön derzeit zu besichtigen und weitergedacht im Kunstmuseum Bonn.
Von der Wiege der Demokratie und des europäischen Theaters sind die Flaneure des Bonner fringe ensembles weitergereist zur Hauptstadt des Geldes: Nach der Erkundung Athens im vergangenen Jahr verweilten sie also nun kurz in London, wo der nahende Brexit für politische Unruhe sorgt. Wieder unabhängig voneinander flanierend auf der Suche nach subjektiven Eindrücken von einer Stadt im Umbruch. Klar habe der Taxifahrer für den EU-Ausstieg gestimmt, weil er gegen die vielen Regularien und die unkontrollierte Einwanderung sei, berichtet die Schauspielerin Bettina Marugg. In der britischen Hauptstadt sei es jedoch anders als in Athen sehr schwierig, mit Menschen ins Gespräch zu kommen: „London riecht nach ­Anonymität“.
Die Zuschauer sind diesmal nicht zum Mitflanieren durch den Raum eingeladen, sondern zur distanzierten Beobachtung der von den Akteuren mitgebrachten Bilder, Töne und Beschreibungen. Ausstatterin Annika Ley ließ sich vom Sehen leiten. Ihre Bühneninstallation ist ein visuelles Wunderwerk aus bewegten Bildern. Ständig verschiebt sie an Seilen hängende weiße Plakatrückseiten, die sich mit Projektionen füllen. Architekturfragmente, ­Straßen­szenen, abstrakte Lichtreflexe fügen sich überraschend zusammen, ergeben immer wieder raffinierte Blickwechsel zwischen Stillstand und Dynamik.
In den leisen Bildertanz mischt sich Bettina Marugg, die aus Dialogen mit einem jungen Jamaikaner englische Songs gestaltet hat. „I’m from here“ – wie meine ganze Familie, aber drüben lassen sie die Kinder sterben. Einen herrlich schrägen Diven-Auftritt hat sie in Shorts und High-Heels mit langem Mantel, beleuchtetem rotem Regenschirm und Videokoffer. Man kann halt rumlaufen, wie man will – niemand schert sich drum in diesem scheinbar megatoleranten, internationalen, bunten Biotop mit seinem charmanten bürgerlichen „Urban Gardening“.
Der Schauspieler Andreas Meidinger hat ein Tagebuch geführt im Norden der Stadt, in der Nähe des Highgate Cemetery, wo Karl Marx 1883 seine letzte Ruhestätte fand. Bizarre (nicht ganz jugendfreie) Tipps aus der schwulen Nachtschwärmer-Szene kombiniert er mit einem ­historischen Exkurs zum Friedhofsgeschäft und Beobachtungen beim 200. Geburtstag des „Kapital“-Verfassers bis hin zu der goldenen Träne einer chinesischen Sonnenbrillenträgerin. Vorher hat Meidinger sich in einem ungemein witzigen Monolog geschminkt und befrackt, später wird er eine blutige Revolution beschwören, die im Handgranatenrausch die Verdammten dieser Erde zum Widerstand aufruft.
Musikalisch spannungsreich kommentiert wird die von Fringe-Chef Frank Heuel elegant inszenierte Produktion (er ist vorläufig wieder mit diversen öffentlich geförderten Projekten unterwegs in der Türkei und in Afrika) von der Bühnenkollegin Justine Hauer. Eine sehr unterhaltsame Reise ins exzentrische Inselreich, die jenseits aller touristischen Klischees mit den Vorder- und Abgründen der Wahrnehmung spielt. E.E.-K.

Spieldauer ca. 2 Stunden, inkl. einer Pause
Die nächsten Vorstellungen:
15. // 16. // 17.11.18

Montag, 21.01.2019

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