Keller, Hildegard E.: Was wir scheinen

Was wir scheinen
Foto: Eichborn Verlag
Was wir scheinen
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kultur 167 - Dezember 2021

Unter dem Titel kann man sich alles oder nichts vorstellen, nicht wahr?
Niemand würde doch vermuten, dass es sich um Hannah Arendt handelt, die in diesem Buch aus ihrem Leben erzählt?
Sie ist Anfang 60 und kommt noch einmal zum Urlaub ins Tessin. Sie ist vor kurzem Witwe geworden und allein, erinnert sich an Freunde, an Ereignisse aus ihrem reichen Leben. Sie ist weltberühmt als Philosophin und politische Journalistin, sie lebt in Amerika, sie ist eine deutsche Jüdin, die in den 30er-Jahren emigrierte, sie ist eine eminent kluge Frau, sie schreibt Bücher, sie dichtet, sie denkt, sie hält Vorlesungen als Gast-Professorin, sie bindet sich nicht, ihr Freiheitsdrang bestimmt ihr Leben.
Ein wichtiger Punkt ist der Eichmann-Prozess, an dem sie für die amerikanische Presse als Journalistin teilnimmt, über den sie ein Buch schreibt, für das sie heftig attackiert wird. Hieran erinnert sie sich immer wieder und versucht, sich zu erklären. „Nur das Gute reicht in die Tiefe“, sagt sie, „das Böse ist Oberfläche, Eichmann war ein Wicht, kein Dämon.“
Die Autorin ist bisher unbekannt, es ist ihr erstes Buch, ich finde es exorbitant. Es fordert Aufmerksamkeit und schenkt Wissen, es ermuntert zum Denken, zur Teilnahme an einem ungewöhnlichen Leben, in das der Leser eintaucht, als wenn er der nun verstorbenen Frau sehr persönlich begegnet in der wunderschönen Tessiner Landschaft und von dort aus in alle Welt.
Was für ein Buch! Welch eine literarisch-stilistische Leistung, ich bin wirklich begeistert, aber ich weiß natürlich, dass es nicht die Bestseller-Listen stürmen wird, zu elitär ist das Thema, aber wer sich darauf einlässt, wird reich beschenkt auf mancherlei Weise.

Hildegard E. Keller
Was wir scheinen
Eichborn Verlag,
Hardcover, 576Seiten,
Ersterscheinung: 6.02.2021, 24 €.

Dienstag, 22.11.2022

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