Ava Gesell - Kultur Nr. 173 - November 2022

Barbarina, Lola und Iweins pochendes Herz - Elisabeth Einecke-Klövekorn triff Ava Gesell

Am Morgen vor unserem Treffen fand die erste szenische Probe für die neue Familienoper „Die Kinder des Sultans“ statt. Noch auf der Probebühne in Beuel, am Abend wird dann weiter geprobt. Die Inszenierung von Anna Drescher existiert bereits; das Werk des israelischen Komponisten Avner Dorman wurde im März 2022 in Dortmund uraufgeführt und kommt im November in Bonn heraus. „Ich habe mir vorher das Video angeschaut, aber live mit dem Regieteam herrschen dann doch ein ganz anderes Tempo und eine intensive Konzentration“, erklärt die junge Sopranistin. Ava Gesell verkörpert die Sultanstochter Fadeya, die sich mit ihrem Zwillingsbruder Taseh auf den Weg ins Reich ihres Vaters begibt. Ihr Bonner Kollege Santiago Sánchez hat den Taseh bereits in Dortmund gesungen und kennt die Produktion, was bei den Probenarbeit recht nützlich ist.
Seit der Spielzeit 2020/21 ist Ava Gesell festes Mitglied im Ensemble der Oper Bonn. Zuvor war sie seit 2017 hier schon mehrfach zu Gast in kleineren Partien im Rahmen der Kooperation mit der Kölner Hochschule für Musik und Tanz. „Es ist großartig, dass Studierende auf diese Weise sehr viel Bühnenpraxis erwerben und mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten können. Bei Hochschul-Produktionen hat man meistens 12 Wochen Probenzeit, hier allenfalls die Hälfte. Es ist gut, wenn man rechtzeitig ausprobiert, ob man den im realen Betrieb unvermeidlichen Stress tatsächlich mag. Ich finde es am Ende immer wunderschön, wenn sich bei der Premiere ein Glücksgefühl einstellt, weil man gemeinsam etwas erarbeitet hat, das sich hören und sehen lassen kann. ­Während der Coronazeit hat mir das extrem gefehlt. Außerdem ist mein Freund Trompeter, hat gerade eine Praktikumstelle bei der Philharmonie Südwestfalen in Siegen und kennt folglich die besondere Arbeitssituation in der Bühnenkunst.“
Die Leidenschaft für den Gesang war Ava quasi in die Wiege gelegt. Ihr Vater war der legendäre Kölner Gesangsprofessor und -pädagoge Willi ­Gesell (1926 – 2017), bei dem sie auch ihren ersten Unterricht erhielt. Er war als Solist an etlichen internationalen Häusern engagiert und sechs Jahre lang Ensemble-­Mitglied in Bonn, bevor er sich 1964 für die akademische Lehre entschied und als Professor zahlreiche Gesangskarrieren mitbegründete. „Meine Mutter war seine Studentin. Die beiden verliebten sich, sie wurde schwanger, und so bekam er im fortgeschrittenen Alter eine Tochter, die unbedingt zur Bühne wollte.“ Bereits mit drei Jahren erhielt Ava Ballettunterricht, mit elf Jahren wurde sie in die berühmte Ballettschule von John Neumeier in Hamburg aufgenommen. „Das Leben im Internat, getrennt von meiner Familie, war mir aber doch zu hart. Die Tanzausbildung war toll und hilft mir natürlich immer noch sehr. Ich entschied mich also doch für meine Gesangsleidenschaft und trat mit fünfzehn Jahren erstmals als Solistin in kleineren Konzerten auf. Richtige Rollen kamen dann während meines Studiums. In Köln wurde neben den anderen Fächern sehr viel Wert auf die schauspielerische Ausbildung gelegt. Zu meinen wichtigen Dozentinnen gehörte übrigens die Bonner Schauspielerin Zeljka Preksavec.“
In Hochschul-Aufführungen sang Ava u. a. die Gretel in Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ und den Female Chorus, also die Erzählerin, in Brittens Kammeroper „The Rape of Lucretia“. Es ist eine ziemlich tiefe Sopranpartie. „Im Studium bin ich vom Sopran kurz zum Mezzo gewechselt und habe in Bachs Weihnachtsoratorium sogar die Alt-Arien gesungen. Mein Stimmfach ist aber ganz klar der lyrische Sopran, wobei eine gute Mittellage stets ein Vorteil ist.“ Die hohen Stimmen haben mehr Hauptrollen, leben aber auf der Bühne gefährlich. Gefühlt 80 Prozent der Soprane sind am Ende tot. „Das stimmt für die italienischen Opern des
19. und frühen 20. Jahrhunderts sicher. Interessanterweise hatte Mozart ein viel moderneres Frauenbild und schuf höchst selbstbewusste weibliche Charaktere.“ Derzeit spielt Ava die junge Barbarina in der Wiederaufnahme von Aron Stiehls witziger Inszenierung von „Figaros Hochzeit“ (zum letzten Mal am 5. November auf dem Spielplan).
Dem Bonner Publikum vorgestellt hat sie sich Anfang 2018 als Nella in Puccinis Einakter „Gianni Schicchi“ in der semikonzertanten, spielfreudigen Inszenierung von Mark Daniel Hirsch. Im Mai 2018 folgten die kleine Partie der Pisana in Verdis „I due Foscari”, 2019 die Lola in „Cavalleria ­rusticana“. In der Spielzeit 2019/20 war Ava Mitglied des jungen ­Ensembles des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen. 2020 schloss sie ihr Studium an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln bei der Gesangsprofessorin Mechthild Georg mit einem Master ab. In Bonn gastierte sie Anfang 2019 auch als lustiger Tölpeltroll in der Familienoper „Die Schneekönigin“. „Die pelzigen Troll-Kostüme waren sehr warm, so dass man ordentlich ins Schwitzen geriet. Trotzdem hat es großen Spaß gemacht.“
Die neuen Familienopern mag sie besonders gern und spielt mit Vergnügen für junges Publikum. „Toll sind die Schulvorstellungen, wenn der ganze Saal voller Kinder ist, die das Geschehen gespannt verfolgen und ab und zu auch ohne Scheu kommentieren.“ Im Winter 2021 sang sie das Sand- und das Traummännchen in der neuen Inszenierung von „Hänsel und Gretel“. Anfang 2022 war sie eins der lebendigen Herzen bei der Uraufführung von Moritz Eggerts „Iwein Löwenritter“ in der Regie von Aron Stiehl. Wie verkörpert man ein Herz? „Natürlich ist das Kostüm wichtig. Aber ein Herz muss pochen. Dafür hatte ich ein Tamburin, was gar nicht so einfach zu spielen war, weil das Ganze rhythmisch sehr kompliziert ist. Die modernen Kompositionen sind auch sängerisch oft wirklich anspruchsvoll. Es ist wunderbar, dass hier gerade für Kinder große Opern auf hohem Niveau vorgestellt werden.“ Bei der Düsseldorfer Premiere von „Iwein Löwenritter“ am 16. Oktober ist Ava kurzfristig eingesprungen und spielte wieder Iweins klopfendes Herz.
Begeistert ist sie auch von den Sitzkissen-Opern und -konzerten im Opernfoyer und von den Leistungen des Kinder- und Jugendchors unter der Leitung von Ekaterina Klewitz. Gespannt ist Ava auf das außergewöhnliche Konzert am 26. November, das unter dem Titel „1001 Takt zwischen Maqam und Oper“ knapp zwei Wochen nach der Premiere von „Die Kinder des Sultans“ zu einer Entdeckungsreise zwischen der westlichen und der orientalischen Musikwelt einlädt. Für Regie und Konzept ist Jens Kerbel verantwortlich, den Ava aus der Zusammenarbeit bei der ­Barockoper „La Calisto“ kennt. Unter Klewitz‘ musikalischer Leitung wird die Sopranistin Lieder der europäischen Romantik singen.
In Konzerten tritt Ava Gesell weiterhin regelmäßig auf. Neben Händel und Mozart schätzt sie besonders Mendelssohns „Elias“ und Brahms „Requiem“, das sie im September 2020 mit der Philharmonie Düsseldorf in Erkelenz sang. Auf ihrem Programm in der Oper steht im Februar 2023 noch Händels „Agrippina“ in der herrlich frechen Inszenierung von Leo Muscato, die nach der Streaming-Version während des Corona-Lockdowns nun endlich live auf die Bühne kommt. Ava singt die große Partie der Poppea alternierend mit Marie Heeschen. Im April folgt dann Lehárs Operette „Die lustige Witwe“. Die Rolle der Valencienne wird sie sich auch hier mit Heeschen teilen. Sie fühlt sich an der Bonner Oper aktuell sehr gut eingesetzt. „Ich kann mir ein vielseitiges Repertoire erarbeiten. Man achtet darauf, dass junge Ensemble-Mitglieder sich vorsichtig entwickeln können und ihre Stimmen nicht überstrapazieren.“ Was sie irgendwann gern mal singen möchte, wären Donna Elvira, Mimi und Rusalka. Über die großen dramatischen Sopranpartien denkt sie vorläufig noch nicht nach. „Ich genieße einfach immer wieder das tolle Gefühl, eine ­Herausforderung gemeistert zu haben und freue mich jetzt erst mal auf die große Reise der Fadeya ins Land Sultanien.“

Donnerstag, 01.12.2022

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