Santiago Sánchez - Kultur Nr. 176 - Februar/März 2023

Don Carlo, Taseh, zwei Alfreds und ein russischer Fürst - Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Santiago Sánchez

Aktuell probt er für die selten gespielte Oper „Sibirien“ von Umberto Giordano, die am 12. März Premiere hat. Der Tenor Santiago Sánchez singt den russischen Fürsten Alexis, der am Ende des ersten Aktes allerdings schon aus dem Spiel ist – tot oder schwer verletzt, jedenfalls Anlass für die folgende Tragödie. „Es ist trotzdem eine sehr schöne Partie“, sagt er. „Ich freue mich, dabei mit einigen erfahrenen Kollegen auf der Bühne zu agieren, mit denen ich bisher noch nicht in einer Produktion zusammengearbeitet habe.“
Seit der Spielzeit 20/21 ist Santiago festes Ensemblemitglied an der Oper Bonn. Der Start war holperig, weil vieles, worauf er sich vorbereitet hatte, wegen der Pandemie abgesagt oder aufgeschoben werden ­muss­te. „Allmählich fängt man wieder an, geplante Projekte zu realisieren. Aber es wird noch eine Weile dauern, bis alles ‚normal‘ läuft. Ich bin sehr dankbar, dass die Theaterleitung mir erlaubte, während des Lockdowns viel Zeit in Salzburg zu verbringen und dort im Sommer 2021 am Mozarteum meinen Masterabschluss zu machen.“ Im Fachbereich Lied und Oratorium mit einer Arbeit zur Interpretation von Schuberts Zyklus „Die schöne Müllerin“ und zum Abschluss mit einer Aufführung von Schumanns „Dichterliebe“.
Geboren wurde Santiago Sánchez in Montevideo als Sohn einer seit zwei Generationen in Uruguay lebenden Familie. Aufgewachsen ist er in der spanischen Hafenstadt Alicante. Sein Vater war Berufssänger. „Zu Hause gab es immer Musik verschiedenster Stile von Pop bis Klassik. Ich bin sehr stolz auf meine Anfänge in der Volksmusik. Die lateinamerikanische Musik ist sehr emotional und braucht den Kontakt zum Publikum. Das ist auch für einen Opernsänger eine gute Basis.“
Im modernen Opernhaus von Valencia erlebte der junge Santiago seine ­ersten großen Musiktheater-Aufführungen mit vielen internationalen Stars und war sofort ‚angefixt‘ von der Dramatik und den Stimmen. Er begann ein Klavierstudium am Konservatorium von Torrevieja/Alicante, setzte seine Ausbildung fort mit einem Gesangsstudium am Konservatorium von Ontinyent/Valencia und sang gern in populären Zarzuelas. „Mir war aber klar, dass ich aus meiner Heimatprovinz fortziehen musste, um sängerisch mehr zu lernen. Dass ich an der Universität Mozarteum Salzburg einen Studienplatz bekam, war ein echter Glücksfall. Ich hatte von Freunden gehört, dass man an deutschen Hochschulen ohne gute Deutschkenntnisse kaum Chancen hat, aber eventuell in Österreich. Die Bewerbung in Salzburg war unglaublich einfach. Dann fiel aber der Flug aus, ich hing die halbe Nacht am Flughafen Wien fest, kam übermüdet in Salzburg an und war geschockt angesichts von 146 Konkurrent:innen. Präsentiert habe ich mich mit der Tenorarie „Meine Seele ist erschüttert“ aus Beethovens einzigem Oratorium „Christus am Ölberge“. Es hat geklappt: Ich wurde angenommen. Mein wichtigster Lehrer wurde der chilenische Tenor Mario Diaz, mit dem ich mich auf Spanisch unterhalten konnte. Außerdem studierte ich bei der finnischen Pianistin und Professorin für Liedgestaltung Pauliina Tukiainen, die ja auch seit etlichen Jahren künstlerische Beraterin beim Bonner Schumannfest ist. Irgendwie wurden da schon Spuren nach Bonn gelegt.“ 2021 war Santiago beim Schumannfest im Haus der Springmaus zu Gast mit einem Benefizkonzert für die Flutopfer in der Region.
Sein inzwischen perfektes Deutsch (neben fließendem Englisch und Italienisch) lernte er in Salzburg. „Ich mache mir aber immer lautschriftliche Übertragungen aller Texte und viele Notizen zur Bedeutung der Wörter und Sätze, die ich gesanglich gestalte.“ Das Mozarteum war auch in anderer Hinsicht eine hervorragende Schule, denn es vermittelt dem Nachwuchs regelmäßig kleine Partien an internationalen Spitzenhäusern oder bei Festivals. 2017 verkörperte Santiago beispielweise an der Mailänder Scala einen Lehrbuben in Wagners „Meistersingern“ in der legendären Inszenierung von Harry Kupfer, dirigiert von Daniele Gatti mit Michael Volle als Hans Sachs. An der Wiener Staatsoper war er der „Hitzige Spieler“ in Prokofjews Oper „Der Spieler“ unter der musikalischen Leitung von Simone Young. „Man lernt unglaublich viel, wenn man in solch großartigen Teams engagiert ist.“ Im selben Jahr spielte Santiago auch schon die Hauptrolle des Nemorino in Donizettis „L’elisir d’amore“ bei den Festspielen Schloss Maxlrain. 2019 debütierte er mit großem Erfolg als Alfredo in Verdis „La Traviata“ am Teatro Municipale Piacenza. Sehr glücklich ist er, dass er am Ende seines Studiums die Lilli-Lehmann-Medaille der Internationalen Mozarteum-Stiftung erhielt, benannt nach der berühmten Sopranistin.
Sein eigentliches Bonner Debüt gab Santiago nach einem kurzen Auftritt im Herbst 2020 als junger Faust in dem musikalischen Traumspiel von Jürgen R. Weber mit dem Kinder- und Jugendchor erst knapp ein Jahr später als Graf Elemer in Richard Strauss‘ Oper „Arabella“. Diese Partie sang Santiago später auch in einer anderen Inszenierung am Aalto-Theater Essen. „Es ist wichtig, auch andere Häuser und Künstler:innen in der Umgebung kennenzulernen. Man macht überall interessante Erfahrungen und baut seine Netzwerke aus.“ Wenige Tage vor unserem Gespräch war er als Alfred in Johann Strauss‘ Operette „Die Fledermaus“ am Staatstheater Saarbrücken zu Gast. Die witzige Inszenierung von Aron Stiehl ist eine Koproduktion mit der Oper Bonn. Bei der Premiere hier im Frühjahr 2020, die wegen Corona gleichzeitig auch die vorläufige Derniere wurde, war Santiago noch nicht in Bonn, hat die Partie aber bei der Wiederaufnahme 2022 übernommen. „Es ist lustig, als junger Tenor einen aufstrebenden jungen Tenor zu spielen. Es klingt ein bisschen banal, aber Humor muss man ernst nehmen. Natürlich versucht man immer, die Reaktionen zu berechnen und das Publikum mitzuziehen.“
Im Herbst 2021 sang Santiago dann gleich die Hauptrolle des Alfred in der Neuentdeckung der Oper „Leonore 40/45“ von Rolf Liebermann, wieder in der Regie von Jürgen R. Weber. „Es war eine Arbeit unter schwierigen Bedingungen, weil das Orchester hinter der Bühne platziert war, der Chor unsichtbar an der Seite und die gesamte Koordination eine Menge Aufwand verlangte. Die Musik ist zwar gut zu singen, aber die Dodekaphonie ist strukturell doch kompliziert“. Im scharfen Kontrast dazu stand dann die Titelrolle in Verdis „Don Carlo“. „In dieser Figur steckt ein ganzes Leben vom unbeschwerten Glück über die Enttäuschung zur Revolte. Leider mussten wir bei einigen Vorstellungen wegen Corona den Fontainebleau-Akt weglassen und die vieraktige Fassung spielen. Dort gab es aber eine neue Arie für mich. Gemeinsam mit dem jungen Dirigenten Hermes Helfricht, mit dem ich mich sofort prima verstand, haben wir die andere Version extrem kurzfristig einstudiert. Erst am Tag der Vorstellung, kurz vor Einlass des Publikums, durften wir eine Probe mit dem Orchester machen. Es war eine tolle Herausforderung!“
Die Titelpartie bei der Uraufführung von Moritz Eggerts Familienoper „Iwein Löwenritter“ konnte er – anders als geplant – aus Termingründen nicht singen. Aber in der laufenden Saison sang er die Hauptrolle des jungen Taseh in der neuen Familienoper „Die Kinder des Sultans“. Diese Rolle hatte er schon bei der Uraufführung in Dortmund gespielt, kannte also die Inszenierung und genoss nun die Arbeit mit dem Bonner Ensemble. Im ­Oktober 2022 war er außerdem zu Gast als Don Ottavio in Mozarts „Don Giovanni“ im Teatro Communale von Sassari in Sardinien.
Nach „Sibirien“ steht wieder eine Operette auf seinem Programm. Santiago spielt den Camille de Rosillon in Lehárs „Die lustige Witwe“. Premiere in der Regie von Aron Stiehl unter der musikalischen Leitung von Hermes Helfricht ist am 23. April. Den am selben Tag stattfindenden Deutsche Post Marathon muss der passionierte Langstreckenläufer deshalb aus seinem Terminkalender streichen. Als das sportliche Ereignis 2021 abgesagt wurde, ist er die Strecke ganz allein gelaufen. „Wahrscheinlich war das etwas unvorsichtig, ist aber gut gegangen und hat Spaß gemacht.“ Eine andere Art von sportlichem Hobby betreibt er zudem als Mitglied eines Bonner Schachclubs.
Was der lyrische Tenor mit den langen blonden Locken und den strahlend blauen Augen gern demnächst singen möchte? „Alle lyrischen Tenorpartien von Mozart bis zur Spätromantik. Ich mag besonders Charaktere mit einer starken emotionalen Bandbreite, vor allem Dichter-Figuren.“ Das schlägt einen Bogen zurück zum Liedgesang und zur romantischen Poesie, die ihn immer wieder fasziniert. Sehr begeistert war er auch von den unbekannten Liedern des Komponisten Clemens von Franckenstein, die er im Rahmen der Wiederentdeckung von dessen Oper „Li-Tai-Pe“ aus dem frühen 20. Jahrhundert bei einem Konzert im Foyer der Bonner Oper vorstellte.
Was er an Bonn besonders mag? „Die vielen wunderbaren Menschen in allen Bereichen des Theaters und die sorgfältige Förderung junger Talente. Das große Erbe der ‚Scala am Rhein‘ ist noch lebendig und bei der künstlerischen Qualität deutlich spürbar. Und es gibt ein aufgeschlossenes Publikum mit einer guten Mischung aus jüngeren und älteren Musiktheaterfans. Eure Arbeit in der Theatergemeinde ist da eine Super-Leistung.“



Samstag, 01.04.2023

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.


Letzte Aktualisierung: 30.04.2024 17:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn